Einen Monat später
Hoc inter nos et illos quibus summa est fulgurum persequendorum scientia interest: Nos putamus quia nubes collisae sunt fulmina emitti. Ipsi existimant nubes collidi ut fulmina emittantur.
Zwischen uns und ihnen, die bei der Beobachtung der Blitze das höchste Wissen besitzen, liegt der Unterschied darin, dass wir glauben, Blitze würden ausgesandt, weil Wolken zusammenstoßen. Sie hingegen glauben, dass die Wolken zusammenstoßen, damit sie Blitze hinausschleudern.
2
Sich am Leben berauschen, dachte Lovisa noch. Dann erbrach sie sich heftig in die Toilettenschüssel. Eine Weile verstrich, bis sie wieder richtig atmen konnte und das Gewirr aus Stimmen jenseits der Kabinentür zu ihrem Gehirn vordrang. Sie sah an sich hinunter. Auf den Kacheln unter ihren Knien war eine Pfütze, dessen Herkunft Lovisa ein Rätsel war. Sie verabschiedete sich von ihrem Wunsch, sich ganz hinfallen zu lassen und für immer dazuliegen. Statt dessen griff sie nach der Türklinke und zog sich hoch.
Ich muss schauen, dass ich nach Hause komme, fiel ihr ein. Wenn sie betrunken war, huschten die Gedanken nur so vorbei. Oder sie griff zu langsam nach ihnen, das kam ihr jetzt wahrscheinlicher vor. Sie atmete durch. Nun ging es ihr besser, aber ihre Hose sah fürchterlich aus. Von den Knien abwärts klebte der Stoff nass an ihren Beinen.
Sie trat aus der Kabine und hatte Glück. Alle drei Waschbecken waren frei. Dort schöpfte sie sich Wasser ins Gesicht und spülte ihren Mund aus. Ihre Hose wollte sie trocknen, indem sie eine versiegelte Papierrolle am Stoff auf und ab rollte. Das saugte ein wenig von der Nässe auf, beseitigte aber nicht den Schmutz.
Die Toiletten lagen nah am Ausgang. Dennoch musste sie sich an den Schlangen der Hinein- und Hinausgehenden vorbeischieben und mit der stickigen Hitze kämpfen. Als sie endlich das Freie erreichte, ging sie rasch weiter, um sich den Blicken der Anstehenden zu entziehen. Draußen war es wärmer, als sie gehofft hatte. Immerhin duftete die Nachtluft nach Blüten und wirbelte in sanften Böen um ihren Kopf.
Sie folgte einfach der Straße, von der sie glaubte, dass es der Sveavägen war. Ein alter amerikanischer Straßenkreuzer in Beige zog hupend an ihr vorbei. Zwei Jungen hatten sich auf die Kanten der hinteren Fenster gesetzt und schwangen Hammarby-Fahnen.
Sie entdeckte den Eingang zur U-Bahn, hielt sich bei der Eingangstür am Metallrahmen fest und blickte die steile Treppe hinab. ‚Rådmansgatan‘ stand dort riesengroß. Sie überlegte angestrengt, kam aber nicht darauf, ob das auf ihrer Linie lag. Während sie noch dastand, kamen zwei Frauen die Treppe herauf.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“
Die beiden waren neben ihr stehengeblieben und musterten sie. Lovisa begriff erst mit einiger Verzögerung, dass die Frauen mir ihr sprachen. Sie nickte.
„Du solltest nicht hineingehen“, sagte die mit den blonden Strähnen. „Unten ist alles voller Polizei.“
Lovisa nickte ohne Unterbrechung weiter und erinnerte sich. Sie war ja mit dem Bus hergekommen, und wenn sie mit dem Bus herkommen konnte, dann konnte sie auch wieder damit zurückfahren. Sie wandte sich vom Eingang ab und blickte den Sveavägen entlang. Die Frauen waren weitergegangen und warteten jetzt vor der Ampel.
Ich muss den Zweier nehmen, sagte sie sich und streckte den Arm aus. Sie bemerkte, wie ernst ihr Zustand war, wenn sie schon für sich selbst den Arm ausstreckte und auf Dinge zeigte, die sie bereits sah. Sie steuerte auf die Kreuzung zu, die nur zweihundert Meter entfernt lag. Schon nach wenigen Schritten ging es ihr besser. Auch mit dem Denken klappte es wieder ganz gut. Sie lief an dem viereckigen Bassin entlang, das zwischen der Handelshochschule und der Bibliothek lag. Dort war eine Menge los. Einige hatten die Holzbänke in das Becken verfrachtet, um beim Sitzen mit den Füßen im Wasser planschen zu können. Drei Jungen waren mit dem Skateboard unterwegs. An der Kreuzung wimmelte es vor Menschen und vor dem Schnellrestaurant waren alle Tische belegt. Lovisa warf einen Blick hinein zu den Kassen, aber dort reichten die Schlangen beinahe bis zur Tür. Sie erreichte die Straßenecke. Im 7-Eleven schien es ruhiger zu sein, immerhin standen nicht mehr als fünf Menschen an der Kasse. Die Wärme im Inneren war zu ertragen und auch der Geruch nach Essen. Sie durchquerte den Laden und nahm sich eine Flasche Ramlösa mit Zitronengeschmack aus dem Kühlschrank. Auf dem Weg zur Kasse entdeckte sie eine Tüte mit Chips und griff danach. Beim Warten klemmte sie beides unter ihre Arme und fuhr mit den Händen in die Tasche ihrer Jeans. Geld hatte sie noch, sie spürte ein oder zwei Geldscheine und eine kleine dicke Münze.
Die Schlange kam langsamer voran als erhofft. Lovisa lehnte sich gegen die Vitrine und sah den Würstchen darin beim Drehen zu. Die Frau vor ihr duftete gut, wie die Blüten an den Bäumen draußen. Lovisa betrachtete den Rücken der Frau und dann ihren Hintern. Sie trug einen Rock, der ihr bis zu den Knien reichte. Lovisas Blick wanderte wieder hinauf. Die Bluse war aus einem wunderschönen Stoff. Das Haar glitzerte schwarz. Bei jeder kleinen Bewegung wippte es als kompakte Masse hin und her. Erst als die Frau an die Reihe kam und sich zu dem indisch aussehenden Jungen hinter der Kasse wandte, konnte Lovisa ihr Gesicht sehen und starrte sie unverhohlen an. Die Frau sagte etwas auf Englisch und erhielt kurz darauf einen Becher Kaffee. Lovisa atmete auf, als sie endlich selbst an die Reihe kam und nicht mehr neben der Warmhaltevitrine warten musste. Der Schwindel kehrte zurück. Sie schaffte es bis zur Tür und dann bis zur Gehsteigkante. Während sie auf grün wartete, versuchte sie, die Tüte aufzureißen und ließ sie dabei fallen. Sie bückte sich und verlor das Gleichgewicht.
„Are you all right?“
Schon wieder die Frau. Sie hatte sich über Lovisa gebeugt, die zwischen den Stoßstangen zweier geparkter Autos auf dem Hintern gelandet war. Lovisa nickte und deutete zur Bushaltestelle in der Odengatan. Die Frau erwiderte etwas, doch davon verstand Lovisa nur das Wort Taxi. Ein Taxi wäre nicht schlecht, dachte sie. Die Frau packte sie unter den Achseln und half ihr, sich auf die Kühlerhaube des Autos zu setzen. Die Übelkeit kehrte zurück, und das Bild der Frau verschwamm. Lovisa schloss die Augen und kämpfte gegen den Sog. Lustigerweise verstummten sogleich alle Geräusche um sie. Ein harter Stoß holte sie aus tiefer Versenkung. Sie blinzelte und spürte, dass sie auf dem Boden lag. Geschrei umgab sie, das von allen Seiten zu kommen schien. Neben ihr quietschten Reifen. Sie riss die Augen auf, um etwas zu erkennen, aber sie sah nur die Stoßstange eines Autos und blendende Scheinwerfer. Die Frau war verschwunden.